In einem fernen Land lebte einst ein König,
den am Ende seines Lebens die Schwermut befallen hatte.
"Schaut", sprach er, "ich hatte in meinem Leben alles, was nur ein Sterblicher erleben,
und mit seinen Sinnen erfassen kann.
Gott habe ich nicht gesehen. Doch ich möchte ihn noch sehen, bevor ich sterbe."
So befahl der König allen Würdenträgern, Weisen und Priestern, ihm Gott nahe zu bringen. Schwerste Strafen wurden ihnen angedroht, würden sie dies nicht binnen drei Tagen zustande bringen. Große Angst überkam die Untergebenen des Königs, und sie erwarteten ihr baldiges Ende.
Nach drei Tagen ließ der König sie rufen. Jedoch der Mund der Mächtigen, der Weisen und der Priester blieb stumm, und schon wollte sie der König dem Scharfrichter überantworten, als ein Hirte vom
Felde kam, der von dem Befehl des Königs gehört hatte.
Er trat vor ihn hin und sprach: "Gestatte mir, o König, dass ich deinen Wunsch erfülle."
"Gut", entgegnete dieser, "aber bedenke, dass es um deinen Kopf geht!" Der Hirte führte nun den König vor den Palast und wies auf die Sonne: "Schau hin", sprach er. Der König blickte in die Sonne, aber diese blendete ihn so sehr, dass er die Augen schloss.
"Willst du, dass ich mein Augenlicht verliere?" sprach der König zum Hirten. "Aber König, das ist doch nur der Abglanz der Größe Gottes. Wie willst du mit deinen schwachen Augen Gott schauen? Suche ihn mit den Augen des Herzens."
Diese Antwort gefiel dem König sehr, und er sagte zum Hirten: "Ich erkenne deinen Geist und die Größe deiner Seele. Beantworte mir nun meine zweite Frage: was war vor Gott?"
Der Hirte besann sich und sagte: "Zürne mir nicht wegen meiner Bitte, Herr, aber beginne zu zählen". Und der König begann, "eins, zwei." "Nein", unterbrach ihn der Hirte, "nicht so. Beginne mit dem, was vor eins kommt."
Der König entgegnete: "Wie kann ich das? Vor eins gibt es doch nichts."
"Sehr weise gesprochen, o Herr, auch vor Gott gibt es nichts."
Diese Antwort gefiel dem König noch weit besser als die erste, und er sagte zu dem Hirten:
"Ich werde dich reich beschenken, aber beantworte mir vorher noch meine dritte Frage. Was macht Gott?"
Der Hirte merkte, dass das Herz des Königs weich geworden war.
"Gut", erwiderte er, "auch auch darauf will ich dir antworten. Nur bitte ich dich um eins,
lass uns für eine kurze Zeit die Kleider tauschen."
Der König entledigte sich nun seiner kostbaren Gewänder und vertauschte sie mit dem unscheinbaren Rock des Hirten.
Dieser setzte sich auf den Thron, ergriff das Zepter und wies mit ihm auf den König.
"Siehst du, o Herr, das macht Gott. Die einen erhebt er auf den Thron und die anderen heißt er herabsteigen."
Und der Hirte zog wieder seine eigene Kleidung an. Der König stand lange da und dachte nach. Die letzen Worte des Hirten gingen durch seinen Kopf.
Plötzlich aber wurde er froh und sagte: "Jetzt sehe ich Gott".
Geschichte von Leo N. Tolstoi
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