Unsere Frau zu den Nesseln, eine Wallfahrtslegende ...
Geschrieben in altertümlicher deutscher Sprache.
Zu den mancherlei Wallfahrten, die es schon in der Mitte des fünfzehnten
Jahrhunderts im Schwabenlande gab, entstanden in demselben Jahrhundert
auch noch viele neue.
Im Jahre 1484 ging eine Bäuerin ihres Weges von Heilbronn gen Weinsberg, da
sahe sie ohnweit des Stadtgrabens einen Bildstock mit Unser Frauen Bilde stehen,
der war ganz und gar mit Nesseln und anderem Unkraut überwuchert.
Davon ward sie bewegt und sprach:
»O du reine Jungfrau Maria! Komm, ich will dein schön andächtig Vesperbild mit
mir heim in mein Dorf tragen, da soll es ehrlich gehalten werden« - und wollte das
Marienbild vom Stocke heben. Aber da sprach das Bild: »Frau, ich will in diesem Nesselbusch bleiben, denn an diesem Ort wird Gott Wunder tun.«
Über diese Stimme erschrak die Frau zum Tode und fiel in Ohnmacht. So fand sie
ihr Mann, der nach ihr des Weges kam, da er sich in etwas versäumt, bewusstlos liegen, sprach ihr zu und richtete sie auf, und da sie wieder zu sich kam, erzählte sie ihm alles.
Darauf breiteten beide allenthalben aus, was der Frau begegnet war. Und wurde ein
großer Zulauf zu dem Vesperbilde, und wurden ihm Opfer dargetragen an Geld, Wachs, silbernem und goldenem Geschmeid, Kleinode, Kleider, und waren auch gleich fromme Männer zur Hand, welche diese Spenden in Empfang nahmen.
Erbaueten ein schön lustig Kloster in die Ehre Gottes und Unsrer Frauen und gaben
es den Karmelitern ein, die ließen das Mirakel durch einen der Ihren, der Doktor und Professor der Theologie war, in Druck ausgehen, und hat das Kloster und sein
Wunderbild in hohem Flor gestanden bis zum Jahre 1525, da die aufrührerischen Bauern im nahen Weinsberg ihre mörderische Tat begingen, die nahmen auch das Kloster Unsre Frau zu den Nesseln ein, plünderten, zerstörten und verheerten es.
Quelle: Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853
Kommentar schreiben